Namibia und Deutschland verbindet eine kurze, aber intensive und traumatische Geschichte. Zwischen den Jahren 1884 und 1918 war das Gebiet, das später zu Namibia werden sollte, eine deutsche Kolonie. Deutsch-Südwestafrika, wie es genannt wurde, war der einzige deutsche Besitz in Afrika, der sich für eine umfangreichere europäische Besiedlung eignete, und spielte aus diesem Grund im deutschen kolonialen Denken eine bedeutende Rolle: Als zukünftige Siedlerkolonie imaginiert, sollte sie zu einem „neuen Deutschland“ in Afrika werden. Tatsächlich fanden hier die ersten Erfahrungen der Deutschen mit dem Genozid und der Errichtung eines Rassenstaates, statt. Als Folge davon lebt im heutigen Namibia immer noch eine beträchtliche, deutschsprachige Minderheit. Sie stellt heute die größte eindeutig identifizierbare Bevölkerungsgruppe deutschen Ursprungs außerhalb Europas dar. Insbesondere die Kriege von 1904 bis 1908 gegen die Herero und Nama, die sehr schnell zu einem Genozid wurden, waren Wendepunkte in der deutsch-namibischen Geschichte. Damit wurde der namibische Widerstand gegen die deutsche Eroberung gebrochen und afrikanische Bevölkerungsgruppen wurden ermordet, vertrieben oder in Konzentrationslagern, so der zeitgenössische Begriff, inhaftiert. Land und Vieh der afrikanischen Gesellschaften wurden enteignet, die Überlebenden wurden in ein starres System der Zwangsarbeit gezwungen. Rassentrennungsgesetze zur Aufrechterhaltung einer strengen colour line (‚Rassengrenze‘) wurden erlassen. Zwischen 1903 und 1913 verdreifachte sich die weiße Bevölkerung von 4.640 auf 14.830.6 Gleichzeitig stieg die Anzahl der Kinder mit deutschem Vater und afrikanischer Mutter auf über 10 % der europäischen Bevölkerung. Die Mehrzahl dieser Kinder war das Ergebnis von Vergewaltigungen und sexueller Gewalt, sowohl im Krieg als auch zu Friedenszeiten. Dem (deutschen) Gesetz nach galten sie nicht als Deutsche, sondern als Afrikaner. Die Herero- und Namagesellschaften, die vorher als unabhängige Viehhalter und -züchter und Eigentümer ihres Landes und ihrer Viehherden gelebt hatten, wurden zwangsweise zu entrechteten Dienern und Arbeitern degradiert. Ihre Oberhäupter waren entweder getötet worden oder im Exil, ihre Traditionen unterbrochen. Sie sollten in einem Prozess des kulturellen Genozids zu einem unterwürfigen Stand Untergebener umgeformt werden, zur untersten Schicht in einer rassischen Privilegiengesellschaft, wie sie sowohl den deutschen Siedlern wie den Kolonialbeamten vorschwebte. Da die deutsche Kolonialherrschaft nur sieben Jahre nach Ende der Kriege der Deutschen gegen die Herero und Nama endete, wurde die Errichtung eines deutschen Rassenstaates nie abgeschlossen. Dennoch waren die Weichen für eine Apartheid-Gesellschaft, wie sie formell erst nach 1948 entstand, somit bereits gestellt.

Sowohl die Herero wie die Nama überlebten, und es gelang ihnen, ihre gesellschaftlichen Strukturen wiederherzustellen wie auch teilweise ihre Traditionen neu zu erfinden. Ihr Landbesitz ist noch nicht wiederhergestellt. Die ehemaligen Siedler beanspruchen immer noch einen (wirtschaftlich) privilegierten Status innerhalb des namibischen Staates, der seit 1990 von Südafrika unabhängig ist. Die bloße Existenz Namibias als eigenständiges Land innerhalb der bestehenden Grenzen ist das Ergebnis des zunächst deutschen und später südafrikanischen Kolonialismus.

Sowohl der Genozid wie auch seine Folgen können weder als abgeschlossenes Kapitel in der Geschichte Namibias oder Deutschlands noch in der Beziehung zwischen beiden Ländern angesehen werden. Seitdem die Unabhängigkeitserklärung Namibias und das Ende des Apartheidsystems die Herero und Nama in die Lage versetzt haben, ihre Meinungen offener zu Gehör zu bringen, wurde der Ruf nach einer formellen Entschuldigung seitens Deutschlands laut. Seit 2006 wird diese Forderung auch durch das namibische Parlament unterstützt. Als der Deutsche Bundestag 2016 die Anerkennung des Genozids an den Armeniern durch das Osmanische Reich beschloss, mehrten sich die kritischen Stimmen in Deutschland und darüber hinaus. Man forderte, Deutschland solle diesem Beispiel folgen, den ersten Genozid des 20. Jahrhunderts gleichfalls anerkennen und eine Entschuldigung aussprechen. Obwohl mittlerweile Verhandlungen darüber zwischen den Regierungen Deutschlands und Namibias aufgenommen wurden, ist bisher keine Einigung erzielt worden. Allenfalls scheinen sich die Positionen, vor allem bezüglich der Forderung nach finanzieller Entschädigung, verhärtet zu haben. Ein beträchtlicher Teil der Herero und Nama, die durch ihre Nichteinbindung in den Verhandlungen vor den Kopf gestoßen waren, hat sogar Klage gegen Deutschland in New York erhoben. Kurzum, die politischen Bestrebungen zur Bewältigung dieser problematischen Vergangenheit stecken in einer Sackgasse.

Doch da wo die Politik versagt, können Wissenschaft und Kunst einen Beitrag leisten. Die Aussöhnung ist ein zu hohes Gut, als dass es Diplomat*innen, Politiker*innen und Jurist*innen überlassen werden darf. Sie muss aus der Mitte der Zivilgesellschaft kommen. Unser Projekt “Visual History of the Colonial Genocide” ist ein solches Beispiel. Es spricht das grundlegende postkoloniale Vermächtnis an, dass kulturelle und rituelle Objekte sowie Dokumente und Fotografien aus der Kolonialzeit sich überwiegend in den Archiven und Lagerräumen, Hörsälen und Museen der früheren Kolonialmächte befinden.

In Zusammenarbeit mit dem Museum am Rothenbaum, Kulturen und Künste der Welt (MARKK) sowie mit großzügiger Förderung durch die Gerda Henkel Stiftung haben wir daher ein Gemeinschaftsprojekt mit Forscher*innen und Künstler*innen entwickelt. Dazu haben wir drei namibische Künstler*innen eingeladen, mit uns Historiker*innen hier in Hamburg eine umfangreiche und faszinierende Sammlung historischer Fotografien aus der Zeit des Genozids aufzuarbeiten. Dadurch hoffen wir, den geistigen Raum zu schaffen, in dem wir uns nations- und generationsübergreifend mit der traumatischen deutsch-namibischen Vergangenheit auseinandersetzen können.

Es war nicht unser Anliegen, einen einheitlichen Ansatz oder eine einzige Botschaft zu entwickeln. Vielmehr geht es darum, eine Vielzahl verschiedener Standpunkte zu Gehör zu bringen und unsere Geschichte aus möglichst vielen Blickwinkeln zu beleuchten. Die Zusammenarbeit zwischen Historiker*innen und Künstler*innen erhöht die Komplexität. Sie lässt verschiedene Interpretationen zu, die eine rein historische Herangehensweise nie ermöglicht hätte. Ein Vermächtnis des Kolonialismus ist die Tatsache, dass die (europäischen) Fotografen den überwiegenden Teil der fotografischen Inszenierungen bestimmten. Indem sie entschieden, wen sie für die „Ewigkeit“ festhielten und wie, brachten sie sie gleichzeitig – zumindest zum Teil – zum Schweigen. Wenn junge Namibier, junge Künstler*innen, sich mit diesen Fotografien auseinandersetzen, können wir wenigstens die namibischen Perspektiven hören. Wir sind Historiker*innen und Künstler*innen, keine Aktivist*innen! In Zeiten wie diesen und bei derartigen Themen erscheint jedoch jeder wissenschaftliche Beitrag und jedes künstlerische Engagement politisch, denn das Schweigen über bestimmte Aspekte oder Themen stellt genauso eine Aussage dar wie das Ansprechen. Dieses Schweigen kann mitunter ziemlich ohrenbetäubend sein! Und das Schweigen beherrschte über viel zu viele Jahre das deutsche Narrativ über die koloniale Vergangenheit.

Die Zeit ist gekommen, dieses Schweigen weiter zu brechen und ich fühle mich geehrt und privilegiert, zusammen mit engagierten Kolleg*innen dazu beizutragen. Mein Dank gilt Ulrike Peters, der anderen Historikerin unseres Teams, sowie unseren drei namibischen Künstler*innen, Dr. Nicola Brandt, Nashilongweshipwe Mushaandja, und Vitjitua Ndjiharine.