Bericht von Ulrike Peters und Nils Schliehe:

Am vergangenen Wochenende war das Schauspiel Köln mit Nuran David Calis Performance ‚HERERO_NAMA – A History of Violence‘ zu Gast auf Kampnagel in Hamburg. Das starke und emotionale Stück bringt Schauspieler*innen, Aktivist*innen und Wissenschaftler*innen auf der Bühne zusammen, um ein wichtiges Kapitel deutscher Kolonialgeschichte zu thematisieren und gleichzeitig alltäglichen und strukturellen Rassismus, globale Ungleichheit und den aktuellen Stand der deutschen Erinnerungskultur zu hinterfragen.

Die Performance verfolgt einen biografischen Ansatz und so werden die Zuschauer*innen gleich zu Anfang mit den Lebensläufen der Nama und Herero Aktivist*innen Christel Ihmann und Israel Kaunatjike bekannt gemacht. Als „Bornfree“ – also nach der Unabhängigkeit Namibias Geborene – sitzt sie links an einem modernen Tisch mit Stühlen, er sitzt rechts, an einem antik anmutenden Tisch gedeckt in Manier einer deutschen Kaffeetafel und berichtet von einer Jugend in Namibia unter der Apartheid; die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Zusammen mit dem Kulturanthropologen Julian Warner formulieren sie ihre persönlichen Ziele: Versöhnung, Reparationen, eine Aufarbeitung der Geschichte und Antworten auf die Fragen „Was ist passiert und wie erzählen wir das? Wie können wir die Vergangenheit in die Gegenwart holen?“

Es folgt eine Art „Bestandsaufnahme“ der Geschichte. Den „Geistern der Vergangenheit“ gleich berichten die Schauspieler*innen Yuri Englert, Stefko Hanushevsky und Sithembile Menck in weiße Mönchsroben gehüllt, die Gesichter von weißen, ausdruckslosen Masken bedeckt, zunächst von der christlichen Mission im heutigen Namibia, von der deutschen Kolonialzeit, vom Krieg gegen die Herero und Nama und vom Genozid.
Dabei kamen auch immer wieder Originalquellen zum Einsatz. Das Bühnenbild wird von erleuchteten Kirchenfenstern dominiert, ergänzt durch Projektionen historischer Bilder und einen Friedhof aus kleinen Holzkreuzen, der im Laufe der Performance aufgestellt wird. Unterbrochen wird die „historische Bestandsaufnahme“ durch einen Austausch zwischen den „Erzählenden“ und den drei Schauspieler*innen, die ihre Masken ablegen und aus ihrer Rolle schlüpfen, um unter Anderem nach persönlichen Erfahrungen zu fragen. Dann geht es zurück in die historischen Quellen und vor dem Hintergrund eines riesigen Porträts Kaiser Wilhelms II. berichten die drei „weißen Masken nun in zeitgenössischen Uniformen und Kleidern von den Grausamkeiten der deutschen Kolonialherrschaft. Durch Quellenzitate wird eine Debatte der deutschen Kolonialherren über die Prügelstrafe nachvollzogen. Untermalt durch eine Geräuschkulisse, die das Publikum an ihre Grenzen treibt endet diese Episode schließlich in einem Klimax und es wird klar: Dieser Theaterabend ist unbequem und das soll er auch sein.

Im letzten Teil des Stücks wechselt die Performance endgültig vom Theaterspiel zur Diskussion zwischen den „Expert*innen“ und den Schauspieler*innen. Wichtige Themen sind die Darstellung von Gewalt und Trauma und die Rolle der Kunst in der Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit, alltäglicher Rassismus und Kolonialität, Verantwortung und Schuld, Entwicklungshilfe und Entschädigung, „Afrika“ und der Westen.

In einem kraftvollen und persönlichen Stück schafft es Nuran David Calis auf eindrückliche Weise, eine Vielstimmigkeit auf der Bühne zu produzieren, die die Komplexität der verhandelten Probleme und Themen unterstreicht. An diesem Abend geht es nicht nur um die grausame deutsche Kolonialgeschichte mit dem Völkermord in Namibia und die Auseinandersetzung damit, sondern auch um Alltagsrassismus und die heutige globalisierte Welt, in der wir alle leben. Interessant sind auch immer wieder Momente der Selbstreflexion, zum Beispiel über die Rolle und das Selbstverständnis des Theaters und den strukturellen Rassismus im Kunstbetrieb. Dazu werden auch wichtige Fragen gestellt: Was können Kunst und Theater eigentlich dazu beitragen? Wen erreichen sie überhaupt?
Die Einbindung von „Nicht-Künstler*innen“ aus dem Bereich des Aktivismus und der Wissenschaft ist dabei ein interessanter Ansatz, dem es gelingt, dem Stück eine persönlichere Ebene zu verschaffen. Durch die Biografien und Erfahrungen realer Personen erreicht die Performance eine größere Tiefe. Gerade bei der Kontroverse um die Reproduktion von Gewalt kommt aber auch hier wieder die selbstkritische Frage auf, ob eine „inkaufgenommene Retraumatisierung“ der Erzählenden wirklich die richtige Methode ist, nur um Empathie beim Publikum zu erwirken? Zum Ende hin droht das Stück zu einem Dialog zwischen den Schauspieler*innen und dem Kulturanthropologen Julian Warner zu versanden, der zwar viele aktuelle gesellschaftliche Themen aufgreift – von der Restitution kolonialer Raubkunst bis zur Kolonialität der globalisierten Welt – aber auch etwas an Dynamik einbüßt und die Zuschauer*innen zu überfordern droht.
Die Einflechtung der Videotechnik und die Übertragung von Ausschnitten aus der Bühne, Nah- und Porträtaufnahmen auf eine Leinwand erweisen sich als eindrucksvolles Mittel, um die Vielstimmigkeit des Diskurses hervorzuheben und helfen gleichzeitig dem Publikum während der Performance den Fokus zu finden und dem Stück zu folgen. Eine sanfte, aber bestimmte Art, die Aufmerksamkeit zu lenken, die aber gerade in der Diskussion zum Ende an Wirkung verliert.

Insgesamt wirft HERERO_NAMA – A History of Violence eine ganze Reihe wichtiger Fragen auf, mit denen wir uns alle auseinandersetzen müssen: Wie gehen wir mit der kolonialen Vergangenheit und dem geschehenen Unrecht um? Welche Rolle spielt die Kunst und jede*r Einzelne? Wie lassen sich alltäglicher und struktureller Rassismus und die Kolonialität der modernen globalisierten Welt überwinden? Einen sehr guten Vorschlag für einen ersten Schritt liefern Israel Kaunatjike und Christel Ihmann mit einer Forderung, die gleichzeitig die Schlussworten der Performance bilden: Die Anerkennung des Genozids an den Herero und Nama, eine offizielle Entschuldigung und Reparation durch die Bundesrepublik Deutschland.

Beitragsbild: David Baltzer via kampnagel.de