Im Team der „Forschungsstelle Hamburgs (post-)koloniales Erbe“ arbeite ich im Rahmen des Projektes „Die Inszenierung des Anderen“ derzeit an einer Ausstellung zu den Menschenzoos bei Hagenbeck. Unter dem Titel Orient im Rampenlicht habe ich vor einiger Zeit meine Dissertation veröffentlicht, die Anknüpfungspunkte zum laufenden Projekt bietet: Die interdisziplinär angelegte Studie wirft postkoloniale Perspektiven auf Theater- und Kulturgeschichte in Wien und nimmt die Wahrnehmung des sogenannten Orients in der Donaumetropole zwischen 1869 und 1918 in Blick.

Buchcover, (c) Neofelis Verlag

Der Literat der Wiener Moderne, Hugo von Hofmannsthal, bezeichnete Wien einst als „alte porta Orientis für Europa“[1]. Es sei diese „natürliche Verbindung mit dem Südosten Europas, dem nahen Orient“[2] und die geographische Nähe zum Osmanischen Reich, welche die besondere Stellung der Habsburgermonarchie in Europa ausmache. Mit dieser doppeldeutigen Metapher des Tors interpretierte der konservative Verklärer der Habsburgermonarchie Wien einerseits als Bollwerk des ‚christlichen Abendlands‘ und gleichermaßen als weltoffene Pforte und regen Ort der Auseinandersetzung mit  dem sogenannten Orient. Das Sinnbild verweist auf die ambivalente Wahrnehmung und Repräsentation des Anderen aus österreichischer Sicht, die auch historisch bedingt ist: Sie ist von den Türkenkriegen des späten 17. und 18. Jahrhunderts, dem jahrhundertelangen diplomatischen Austausch mit dem Osmanischen Reich, Handelsbeziehungen nach Osten und habsburgischer Orientpolitik ebenso geprägt wie von der europäischen Faszination für alles orientalisch konnotierte und exotisch Anmutende im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert.

Die Eröffnung des Suezkanals (1869) im Beisein Kaiser Franz Josephs I. und die Wiener Weltausstellung (1873) mit ihrem begehbaren cercle oriental beförderten die Orientbegeisterung in der Habsburgermonarchie entscheidend und konsolidierten diese regelrechte Orientmode in breiten Bevölkerungsschichten: Islamische Bauformen und Ornamente inspirierten die (Innen-)Architektur der Gründerzeit; sozial privilegierte Schichten frönten dem boomenden Orienttourismus, der mit der steigenden Nachfrage und dem zunehmenden Angebot von Orientmalerei und Reiseliteratur einherging; man politisierte über ‚den kranken Mann am Bosporus‘; die Orientalistik etablierte sich als Disziplin an der Universität und schürte tiefgehendes Interesse an Philologien, Archäologie und Islam weit über Fachkreise hinaus; Privatpersonen und Museen bauten umfassende Sammlungen von arabischen Papyri oder Kunsthandwerk aus Südostasien auf. Nicht zuletzt erfreuten sich Menschenschauen, Panoramen von Kairo oder Konstantinopel-themed environments im Prater ebenso großer Beliebtheit wie aufwändig inszenierte exotistische Opern, Kreuzfahrerballette oder historische Dramen über osmanische Sultane in den Hoftheatern.

Die Inszenierung von Orient im engeren und weiteren Sinn erfreut sich über Jahrzehnte hinweg großer Beliebtheit in breiten Gesellschafts- und Publikumsschichten und spielte als zutiefst ‚populäres‘ Phänomen eine wichtige Rolle für die Wahrnehmung und Verbreitung von Orientbildern.

Ausgehend von einem weit gefassten Wissens- und Theaterbegriff, der über Kunsttheater hinaus auch Inszenierungen im metaphorischen Sinne in den Blick nimmt, fragt die kulturhistorische Studie daher nach der Beschaffenheit, Vermittlung und Zirkulation von österreichischen Orientbildern. Sie analysiert die zeitgenössischen geodiskursiven Verortungen von Orient sowie die diskursiven Grenzziehungen zwischen ‚Morgenland‘ und ‚Abendland‘, durch die Wien um die Jahrhundertwende als Grenzposten und Begegnungsort im Spannungsfeld zwischen Faszination und Verachtung in Szene gesetzt wurde.

Um Theater und Unterhaltung als wirkmächtigen Bestandteil der europäischen Orientmode herauszuarbeiten, nimmt die Untersuchung eine Reihe von benachbarten Diskursfeldern in den Blick, um Wechselwirkungen zwischen Theaterlandschaft, (Reise-)Literatur, Wissenschaft, Malerei und Ausstellungswesen aufzuzeigen, die charakteristisch für das Phänomen der Orientmode sind. Im Fokus des Buchs steht dabei die quantitativ gesehen enorm produktive, jedoch theaterhistoriographisch nach wie vor marginalisierte, routinemäßige Aufführungspraxis zwischen 1869–1918 und bezieht hoch- und populärkulturell konnotierte Spielstätten und Genres gleichermaßen in die Analyse ein.

Basierend auf umfangreichem Quellenmaterial, das von Theaterzetteln über handschriftliche Textbücher und Zensurakten bis hin zu Bühnenbildentwürfen und Rollenfotos reicht, dokumentiert die Studie erstmals den Niederschlag der Orientmode in der Wiener Aufführungspraxis und weist nach, wie Theater und Unterhaltung aufgriffen, tradierten, popularisierten, affirmierten, parodierten und variierten, was an Wissen, Motiven, Meinungen und Stereotypen in parallelen Diskursfeldern verhandelt wurde – seien es stereotype Fantasien eines märchenhaften Orients aus 1001 Nacht, patriotisches Gedenken an die ‚Türkenbelagerungen‘ Wiens, die Suezkanaleröffnung als vielbeachtetes Event oder österreichische Orientpolitik im Zusammenhang mit der Okkupation Bosniens und Herzegowinas (1878).

Diese breit angelegte Untersuchung der Orientmode in Wien um 1900 versteht sich gleichermaßen als Beitrag zur Orientalismusforschung und als lokaler Theatergeschichtsschreibung, der neue, andere Sichtweisen auf die Pflege des kulturellen Gedächtnisses in Österreich und die koloniale Vergangenheit der Doppelmonarchie eröffnet.

 

Foto: (c) Diana Natermann

Caroline Herfert: Orient im Rampenlicht. Die Inszenierung des Anderen in Wien um 1900. Berlin: Neofelis, 2018. Softcover, 410 Seiten, ISBN: 978-3-95808-160-4

 

Zur Autorin:

Caroline Herfert studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft sowie Arabistik. Gefördert von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften promovierte sie 2015 an der Universität Wien. Zu ihren Forschungsinteressen zählen Theatergeschichte, Historiograpie, Orientalismusforschung und Postcolonial Studies. Seit 2016 ist sie wissenschaftliche Mitearbeiterin an der Forschungsstelle „Hamburgs (p0st-)koloniales Erbe“.

 

 

 

 

 

[1] Hugo von Hofmannsthal: Wiener Brief [II]. In: Ders.: Gesammelte Werke. Reden und Aufsätze II. 1914–1924, hrsg. v. Bernd Schoeller. Frankfurt am Main: Fischer 1979, S. 185–196, hier S. 195.

[2] Hugo von Hofmannsthal: Bemerkungen. In: Ders.: Gesammelte Werke. Reden und Aufsätze II. 1914–1924, hrsg. v. Bernd Schoeller. Frankfurt am Main: Fischer 1979, S. 473–477, hier S. 474.