Die Verantwortlichen für das Humboldt-Forum haben noch nicht verstanden, welche Objekte sie zeigen wollen.

Von Jürgen Zimmerer, erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 9.8.2017

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Der Streit um Deutschlands koloniales Erbe ist eine der zentralen Identitätsdebatten der Gegenwart. Seit zwei Jahren ringt Deutschland unter den Augen der Weltöffentlichkeit um den richtigen Umgang mit dem Völkermord an den Herero und Nama im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika (Namibia). Nun ist auch das Berliner Humboldt-Forum zu den Gegenständen der Debatte hinzugekommen. Postkoloniale Kritik an diesem Vorhaben der Bundeskulturpolitik wird zwar schon seit Jahren geäußert.

Aber der Eklat um den Rückzug der Kunsthistorikerin Benedicte Savoy aus dem Expertenbeirat hat gezeigt, dass sie weitgehend auf taube Ohren stieß. Wo Offenheit und Innovation gefragt wären, wird laviert und heruntergespielt. Die Verantwortlichen für das
größte kulturpolitische Projekt Europas haben keine Idee, wie es den zentralen Geburtsfehler des Projekts, seinen kolonialen Kern, wenn schon nicht korrigieren, dann wenigstens produktiv nutzen könnte. Und es ist noch nicht einmal sicher, dass die Leitung des Forums dieses Problem überhaupt in seiner Tragweite erkennt.

Wie sonst ließe sich erklären, dass der Mit-Intendant und Kunsthistoriker Horst Bredekamp es in seiner Replik auf die Vorwürfe von Benedicte Savoy ein „Spiel“ nannte, „allein und vornehmlich die Kolonialzeit in den Mittelpunkt zu stellen“? Um dann zu erklären, „die Sammlungsgeschichte Berlin umfasst 460 Jahre, und in diesem Zeitraum hat es 34 Jahre Kolonialherrschaft gegeben“, weshalb die französische, an der TU Berlin und am College de France lehrende Kollegin ihre Forderungen besser an Brüssel oder Paris hätte richten sollen.

Dekoloniale Aufarbeitung ist kein Nullsummenspiel. Man kann Forderungen an andere europäische Museen richten, und das geschieht auch, und könnte sich doch gleichzeitig der kolonialen Amnesie im eigenen Haus stellen. Äußerungen wie die Bredekamps lassen es fraglich erscheinen, ob er zentrale Aspekte moderner postkolonialer Theorie, nämlich den Gedanken, dass Kolonialismus „in den Köpfen“ vorbereitet wurde und dort nachwirkt, dass es um die Modi der kulturellen und wissenschaftlichen Weltaneignung und deren Beitrag zur kolonialen Durchdringung der Welt geht, überhaupt kennt.

Der Bezugsrahmen des Humboldt-Forums ist nicht (nur) das deutsche Kolonialreich, sondern der europäische Kolonialismus als strukturprägendes Phänomen der zweiten Hälfte des zweiten Jahrtausends. Deutsche, was auch immer das im Laufe der letzten sechshundert Jahre bedeutete, waren von Anfang an daran beteiligt; gerade an der intellektuellen Vermessung der Welt. Wenn man anknüpfen will an die Großzeit deutscher Gelehrsamkeit, wie es das Humboldt-Forum proklamiert, dann muss man sich auch dem kolonialen Erbe stellen.

Die Kultur entstand im Museum

Die ungeklärte Provenienz vieler Objekte ist hier nur ein Problem, zudem eines, das lösbar scheint, etwa indem man grundsätzlich auf den vermuteten unrechtmäßigen Erwerb aller Objekte hinweist, für die man den rechtmäßigen Erwerb noch nicht beweisen konnte. Indem man derart markierte Objekte aus den Magazinen holt und der ganzen Welt sichtbar macht, erlaubt man zudem den Gebergesellschaften, sich dazu zu äußern und in einen Dialog über die Zukunft der Objekte einzutreten. So könnte das Humboldt-Forum zu einer avantgardistischen Einrichtung für ganz Europa werden.

Doch damit ist es nicht getan. Das problematische koloniale Erbe, welches das Humboldt-Forum antritt, beschränkt sich nicht auf Fragen der Herkunft einzelner Objekte. Die Gründung und die Blüte ethnologischer Sammlungen und der sie präsentierenden Museen vollzogen sich historisch in einer symbiotischen Beziehung zum Kolonialismus. Es war das europäische Ausgreifen über die Welt, welches das Interesse an „exotischen“ und „fremden“, oftmals als „wild“ und „barbarisch“ wahrgenommenen Menschen anregte und welches die Möglichkeiten bot, materielle Zeugnisse dieser „Kulturen“ nach Europa zu verbringen und dort auch zu zeigen.

Der Logik des Sammelns und Ausstellens ist jedoch die Reduktion komplexer gesellschaftlicher und kultureller Strukturen eigen. „Kulturen“ wurden über den Erwerb der Objekte auf einige wenige materielle Hinterlassenschaften reduziert und dabei homogenisiert. Eine Trommel, ein Ritualobjekt, ein Kleid repräsentierte so eine ganze „Kultur“. Unterschiede innerhalb der porträtierten Gesellschaften wurden glattgeschliffen. Gleichzeitig wurden Differenzen zu den Betrachtenden betont. Schließlich wollte in Europa niemand im Völkerkundemuseum (Alltags-)Gegenstände sehen, die man aus dem eigenen täglichen Leben kannte. Eine Betonung des Andersartigen, des Fremden war die Konsequenz. Die Einsortierung in Rangordnungen folgte.

Durch die fatale Entscheidung, die Sammlungen der europäischen Ethnologie nicht ins Humboldt-Forum zu übernehmen, sondern nur die des Ethnologischen Museums und des Museums für Asiatische Kunst, wurde das Humboldt-Forum noch stärker in die koloniale Tradition der Völkerkundemuseen gerückt, als es aufgrund seines Ursprungs ohnehin unvermeidlich war. Dem gilt es, sich zu stellen. Die Geschichte dieser Nutzung der Objekte macht jede Ausstellung dieser Objekte zu einem Kommentar über die vergangene Praxis, denn auch das Schweigen ist laut. Gefordert ist eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit der politischen und ideologischen Gebundenheit von Wissenschaft und Weltaneignung; indem man etwa die Konstruktionsprozesse von Identitäten und Alteritäten in den Blick nimmt, statt blind auf die Macht und Aura „authentischer“ Objekte zu vertrauen.

Deutschlands Ruf leidet

Das Humboldt-Forum ist mit Deutschlands (Kolonial-)Geschichte aber nicht nur durch die Objekte und die Traditionen des Völkerkundemuseums verbunden, sondern auch durch den Ort, an dem es sie präsentieren wird. Das Humboldt-Forum zieht in das Stadtschloss der Hohenzollern, deren letzter regierender Spross, Wilhelm II., als Kaiser auch während des Genozids in Südwestafrika regierte. Aus dem Ort ergibt sich eine besondere Verantwortung. Den Herero und Nama fiel diese Verbindung übrigens sofort auf, zumal sie die Sache so verstehen, dass Millionen für den Wiederaufbau zur Verfügung stehen, während man ihnen Wiedergutmachung verweigert.

Der Streit um diese Wiedergutmachung bildet den aktuellen politischen Kontext für die kulturpolitischen Fragen der Museumsplanung. Während in Namibia die Stimmung immer gereizter wird, versuchen in New York Herero und Nama auf dem Klageweg ihre Beteiligung an den Verhandlungen sowie Reparationen durchzusetzen, worauf Berlin keine bessere Antwort einfällt, als sich die Klageschrift nicht zustellen zu lassen. Der Imageverlust für Deutschland ist der internationalen Presseberichterstattung abzulesen. Deutschland muss sich der kolonialen Vergangenheit stellen. Einen zentralen Ort dafür gibt es bisher nicht.

Die Untätigkeit der Außenpolitiker wie der Museumsplaner verschärft die Kritik, wobei der bisherige Misserfolg erstaunliche Parallelen zutage treten lässt. In den Genozid-Verhandlungen wie beim Humboldt-Forum ignorieren die Verantwortlichen seit Jahren Kritik aus Zivilgesellschaft, Medien und Wissenschaft. Hier wie dort vermeiden sie eine öffentliche Debatte um Inhalte, führen sie keine zivilgesellschaftliche Willensbildung herbei. Auffallend ist zudem, dass in beiden Fällen „Macher“ verpflichtet wurden, die zwar Experten in ihren Gebieten sind, aber nicht eigentlich in Fragen des Kolonialismus und seines Erbes ausgewiesen. Jahre der Diskussionsverweigerung auf Seiten der Verantwortlichen führten zu Diskussionsverhärtung auf beiden Seiten. Es waren vergeudete Jahre. Nun schaukeln sich die Debatten um den Genozid im heutigen Namibia und um das Humboldt-Forum gegenseitig hoch.

Solange die Verantwortlichen im Humboldt-Forum und in der Politik Kolonialismus als Spiel abtun oder wegen seiner vermeintlich kurzen Dauer verniedlichen, so lange wird die Kritik nicht verstummen. Ob man es mag oder nicht, man muss sich endlich der Tatsache stellen, dass die koloniale Welt passé ist, die postkoloniale Welt aber nicht mehr von Europa oder vom globalen Norden insgesamt bestimmt wird. Es reicht auch nicht, gönnerhaft einigen Vertretern der „Welt“, die man selbst auswählt, Zutritt zu den Beiräten zu verschaffen.

Es braucht eine offene Diskussion der Zivilgesellschaft(en) über Sinn und Wesen derartiger Museen und auch über die Bedeutung des welthistorischen Phänomens Kolonialismus für Deutschland genau wie für die Kolonialisierten (im deutschen Kolonialreich und darüber hinaus). Wenn man diese Diskussion global und ohne Scheuklappen führt, dann ist man den Brüdern Humboldt vielleicht im Geiste näher gekommen als durch den Wiederaufbau des Schlosses. Ob das Humboldt-Forum nach seiner Einweihung auch die politischen und ökonomischen Fragen im Zusammenhang der Folgen des Kolonialismus zu Gegenständen der „Agora“ unter dem Schlossdach machen will oder ob es diese Fragen an einen noch zu schaffenden anderen Ort abgibt, Hamburg böte sich aufgrund seiner Rolle im Kolonialismus an, wäre dann zweitrangig. Das Humboldt-Forum hätte seinen Beitrag für Wissenschaft und Bildung in einer postkolonialen Welt geleistet.